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Überall fehlt Personal – und das Zuwanderungs-Reservoir versiegt

watson.ch-Logo watson.ch 25.01.2023 Peter Blunschi
Auf dem Bau und im Gastgewerbe arbeiten viele Portugiesen. Jetzt kehren sie in ihre Heimat zurück. © Gabriele Putzu/KEY Auf dem Bau und im Gastgewerbe arbeiten viele Portugiesen. Jetzt kehren sie in ihre Heimat zurück.

Der Arbeitgeberverband beklagt einen akuten Arbeitskräftemangel. Mehr Zuwanderung aber ist nach Ansicht eines Experten auf Dauer keine Lösung, denn viele Länder holen ihre Leute zurück.

Nach einigen Jahren relativer Ruhe wird die Zuwanderung wieder zum Thema in der Schweiz. Schon bald dürfte die Marke von 9 Millionen Einwohnern überschritten werden. Das liegt auch, aber nicht nur an den Ukraine-Flüchtlingen. Die Wirtschaft und der staatliche Dienstleistungssektor klagen über einen sich verschärfenden Arbeitskräftemangel.

Wer hatte nicht mit Restaurants zu tun, die wegen fehlendem Personal ihre Öffnungszeiten einschränken oder dicht machen mussten? Schwierig ist die Lage auch in den Spitälern, wo ganze Bettenstationen geschlossen werden. Der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) warnt, der Arbeitskräftemangel bleibe trotz wirtschaftlicher Abkühlung «akut».

Die Zuwanderung wird wieder zum Thema – zur Freude der SVP

Die Konjunkturprognosen sind wenig berauschend. In solchen Fällen kommt es oft zu einem Stellenabbau. Heute aber könnten selbst Vakanzen oft nur mit Mühe neu besetzt werden, hiess es bei der Vorstellung des SAV-Beschäftigungsbarometers am Dienstag in Zürich. «So etwas hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben», sagte Direktor Roland Müller.

Schwierige Wohnungssuche

Noch versuchen die Unternehmen, sich mit Zuwanderung aus europäischen Ländern via Personenfreizügigkeit mit der EU zu behelfen. Das hat unerwünschte Nebenwirkungen, denn gleichzeitig schwächelt die Wohnbautätigkeit. Die drohende Wohnungsnot, vor der eine Raiffeisen-Studie schon im letzten Jahr warnte, wird zunehmend als Problem erkannt.

Wirtschaftsminister Guy Parmelin warnte in der «Sonntagszeitung» vor sozialpolitischen Spannungen, «wenn die Mieten steigen und Menschen mit bescheidenen Einkommen keine Wohnung mehr finden». Und selbst Gutverdienende hätten in den grossen Städten zunehmend Mühe bei der Wohnungssuche, hiess es in den Tamedia-Zeitungen vom Dienstag.

Kommt die 10-Millionen-Schweiz?

Das ist Wasser auf die Mühlen der SVP, die im Wahljahr das Thema Zuwanderung zu bewirtschaften versucht, unter anderem mit einer geplanten neuen Volksinitiative. Längerfristig allerdings deutet sich eine Trendwende an. Weil die Bevölkerung in ganz Europa altert, droht die Zuwanderung als Arbeitskräfte-Reservoir zu versiegen.

Noch herrscht in der Schweiz «Dichtestress», aber immer mehr Zuwanderer kehren zurück. © GAETAN BALLY/KEYSTONE Noch herrscht in der Schweiz «Dichtestress», aber immer mehr Zuwanderer kehren zurück.

Vor diesem Szenario warnte Hendrik Budliger, Gründer des Kompetenzzentrums Demografik in Basel, an der Medienkonferenz vom Dienstag. Er hatte schon in der «Sonntagszeitung» bezweifelt, dass die vom Bundesamt für Statistik (BFS) prognostizierte und von der SVP angeprangerte 10-Millionen-Schweiz jemals erreicht wird.

Portugiesen kehren zurück

Denn die Schweiz erlebt nicht nur eine starke Zuwanderung. Auch die Auswanderung nimmt seit Jahren tendenziell zu, was «viel zu wenig diskutiert wird», so Budliger. Immer mehr Länder bemühten sich angesichts ihres Demografieproblems, ihre Arbeitskräfte zu halten oder nach Hause zu locken. Als Beispiel erwähnte Hendrik Budliger Portugal.

In den Köpfen vieler Leute ist Portugal ein armes Auswanderungsland. Die Realität sieht anders aus. «Portugal hat seit der Finanzkrise 2008 ein starkes Wachstum erlebt», sagte Budliger im Gespräch mit watson. Weshalb der Migrationssaldo der Schweiz mit Portugal schon seit 2019 negativ ist. Nicht nur Rentner kehren zurück, auch Familien mit Kindern.

Hohe Löhne, aber ...

«Wir verlieren Arbeitskräfte und Steuerzahler», sagte Budliger. Das trifft auch auf andere Länder zu. Italien etwa tue viel, um Arbeitskräfte zu halten und zurückzuholen: «Das wird sich verstärken.» Ähnliches sieht man in Deutschland. «Selbst in der Schweiz eingebürgerte Deutsche kehren zurück», sagte SAV-Chefökonom Simon Wey zu watson.

Die teuren Kinderkrippen werden für die Schweiz zum Standortnachteil. © GAETAN BALLY/KEYSTONE Die teuren Kinderkrippen werden für die Schweiz zum Standortnachteil.

Das Bundesamt für Statistik verweist auf das gegenüber dem Ausland deutlich höhere Lohnniveau als Begründung für sein 10-Millionen-Szenario. Hendrik Budliger relativiert: «Die Schweiz ist attraktiv, aber auch teuer.» Entscheidend sei das Gesamtpaket, und da habe die Schweiz immer weniger Vorteile. Die steigenden Mieten dürften das Problem verstärken.

Schluss mit «Mini-Pensen»

Was aber kann die Schweiz gegen den Arbeitskräftemangel tun? Eine verstärkte Zuwanderung aus Drittstaaten, über die in Deutschland debattiert wird, ist mit Blick auf die SVP wenig realistisch. Deshalb möchte der Arbeitgeberverband bei der geleisteten Arbeitszeit ansetzen. Er sagt vor allem den «Mini-Pensen» unter 40 Prozent den Kampf an.

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Direktor Roland Müller formulierte drei Punkte: Die tatsächliche Arbeitszeit müsse erhöht werden. Gleichzeitig müsse sich die Mehrarbeit auch lohnen. Das ist heute bei Verheirateten wegen der Steuerbelastung (Stichwort Heiratsstrafe) oft nicht der Fall. Und schliesslich brauche es eine «funktionierende, finanzierbare und überall vorhandene Kinderbetreuung».

Wohlstand als «Hindernis»

In der Schweiz muss sie zumeist selbst bezahlt werden, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern. Ein gutes Beispiel ist Frankreich, das auch wegen der ausgebauten und staatlich finanzierten Betreuungsstrukturen eine bessere Bevölkerungsprognose hat als andere. Für Roland Müller ist klar, dass die Elternbeiträge gesenkt werden müssen.

Die Schweiz hat ein Migrationsproblem – aber nicht so, wie du denkst

Allerdings arbeiten in der Schweiz viele in Mini-Pensen, weil sie es sich leisten können. «Wir haben einen hohen Wohlstand», räumte Müller auf eine Frage von watson ein. Er verstehe den Wunsch nach mehr Work-Life-Balance auch bei Männern. Deshalb müsse man die Rahmenbedingungen so gestalten, dass sich Pensen-Erhöhungen lohnten.

Neben einer ausgebauten Kinderbetreuung gehört dazu aus Sicht der Arbeitgeber die Individualbesteuerung. In beiden Fällen ist Widerstand vonseiten der SVP programmiert. Beim SAV macht man sich keine Illusionen, dass sie das Thema Zuwanderung im Wahljahr ausschlachten will, obwohl sie keine Lösungen hat für den realen Arbeitskräftemangel.

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