Kommt die Schweineherz-Transplantation für den Menschen?
Spenderorgane fehlen. Der Herzchirurg Bruno Reichart hat es nun geschafft, einem Pavian ein Schweineherz zu implantieren. Ob das der Durchbruch auch für Menschen ist, erklärt er im DW-Interview.
Deutsche Welle: Herr Reichart, Ihnen ist es erstmals gelungen, einem Pavian ein Schweineherz zu implantieren. Das weckt die Hoffnung, dass dies auch für Menschen, die Primaten genetisch nahe stehen, in Frage kommt. Warum eignen sich gerade Schweine als Spender-Tiere für Ihren Versuch?
Bruno Reichart: Ethik spielt hier eine große Rolle. Wir essen Schweine seit langer Zeit. Es ist also gesellschaftlich akzeptiert, sie zu töten. Dazu kommt, dass Schweine sehr viele Nachkommen in sehr kurzer Zeit bekommen - alle vier Monate. Und sie sind nach sechs Monaten ausgewachsen und geschlechtsreif.
Zudem ist das Schweineherz dem menschlichen sehr ähnlich im Aufbau. Die Klappen aus dem Herz des Schweins werden ja schon seit vierzig Jahren als Ersatz beim Menschen verwendet.
Lesen Sie auch:
Jede dritte Wildpflanze in Deutschland gefährdet
Die letzten Tage der Inka: Stand ihr Untergang in den Sternen?
Mehr dazu: Organspende: Was man wissen muss
Und warum Paviane als Empfänger?
Das gehört zu dem, was die Behörden fordern: dass man das Organ nicht bei einem Schwein einpflanzt oder bei einem Hund, sondern bei einem Primaten, der uns sehr nahe steht, sodass man Schlüsse ziehen kann, ob der Eingriff auch beim Menschen gelingen kann.
Muss ein Schwein bestimmte Voraussetzungen erfüllen, dass es als Spender genutzt werden kann?
Man muss das Schweineherz an sich anpassen, um Abstoßungsreaktionen im Empfängerkörper zu verhindern. Deshalb werden die Schweineherzen vor der Entnahme genetisch so modifiziert, dass es zu keiner Abstoßungsreaktion im Empfängerkörper kommt.
Noch vor wenigen Monaten wurde geschrieben, dass es viele Hindernisse auf diesem Weg gibt. Zum einen, weil die Pumpleistung des Schweineherzens nicht so groß ist wie die des menschlichen und zum anderen, weil die sogenannten porcinen endogenen Retroviren (PERV) im Genom der Schweine dem Menschen eventuell gefährlich werden könnten. Was wurde aus diesen Bedenken?
Ich muss sagen, dass die Menschen, die das geschrieben haben, leider wenig Ahnung davon hatten und sich besser hätten einlesen sollen.
Ein Schweineherz pumpt hervorragend in einem Paviankörper oder auch im Menschen. Eine Infektion mit den Viren aus dem Schweinegewebe ist bislang nicht bekannt.
Es gibt drei Sorten der porcinen endogenen Retroviren: A, B und C. C ist sehr aggressiv, deshalb müssen wir Tiere nehmen, die C negativ sind oder die durch Züchtung oder genetische Veränderung keine solcher C-Viren aufweisen.
Mehr zum Thema: Schweineherzen für Menschen
Wie muss man sich die genetische Veränderung vorstellen?
Das passiert bereits in der Eizelle. Man muss dazu ein Gen entfernen, was ja heutzutage mit der CRISPR/Cas9-Schere relativ leicht geht. Man kann damit die C-PERV-Kopien im Schweine-Genom zerstören und unschädlich machen.
Und welchen Vorteil hätte das Schweineherz gegenüber den aktuellen Transplantationsmöglichkeiten?
Das hätte den Vorteil, dass man den enormen Spendermangel beheben würde. Und das ist auch unser Ziel: dass ein Schweineherz keine Überbrückungsmaßnahme ist, sondern eine endgültige Transplantation.
Ist das jetzt der Durchbruch?
Da wird es noch einige Durchbrüche geben müssen, fürchte ich. Jetzt brauchen wir erst mal Geld, denn diese Versuche kosten sehr viel. Wir müssen jetzt einen Investor finden, und die gibt es kaum in Europa. Das ist für mich aktuell eine Vollzeitbeschäftigung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert die Versuche ja aktuell sehr großzügig, aber um eine Pilotstudie durchzuführen brauchen wir weitere finanzielle Mittel und ein Netzwerk, zu dem auch Krankenhäuser gehören.
Mehr zu Organtransplantationen: Herpes-Mittel mit Zukunftspreis 2018 ausgezeichnet
Wie würde das denn aussehen, wenn Schweineherzen eine echte Alternative würden? Stehen dann bald überall Schweineproduktionsfarmen herum?
Im Moment würden wenige Schweine und ihre Nachkommen ausreichen für die Pilotstudie. Und später würde man dann - das ist noch Zukunftsmusik - sicher tausend Schweine brauchen. Die Schweine gibt es ja schon, aber für die Aufzucht bräuchte man dann Hygienestandards, die wir noch nirgendwo haben.
Wie können Sie sicher sein, dass ihr Vorhaben auch funktioniert?
Man muss immer mal ins kalte Wasser springen. Aber dass das nicht funktioniert, ist sehr unwahrscheinlich.
Bruno Reichart ist emeritierter Professor am Universitätsklinikum München und einer der profiliertesten Herztransplanteure Deutschlands. Ihm gelang 1983 die erste Herz-Lungentransplantation in Deutschland. Heute befasst er sich mit Xenotransplantation, also der Übertragung von Zellen bis hin zu ganzen Organen zwischen verschiedenen Spezies.
Das Interview führte Anne Höhn
.

-
Eine Schule in Berlin unterrichtet "Biologische Vielfalt"Es ist acht Uhr morgens, neugierig lehnt ein Grüppchen von Mädchen und Jungs am Gatter. "Guck mal, Oreo ist so komisch. Und da, Agro, die rennt auf Wilma zu." Irgendwie sind die drei Ziegen, um die handelt es sich, für die Jugendlichen interessanter als das sonst unerlässliche Handy. Das Grüppchen steht vor dem Schülerbauernhof, wo es neben den Ziegen auch Enten, Hühner, Schweine und viele andere Tiere gibt. Der Bauernhof gehört, wie auch der Schulgarten mit vielen Nutzpflanzen, zur Hagenbeck-Schule im Bezirk Pankow, im Nordosten Berlins. Gut 400 Schüler lernen in dieser Integrierten Sekundarschule. Eine kleine Schule, in einem eigentlich schmucklosen Bau, die dennoch große Anziehungskraft ausübt. "Ich habe mir die Schule ausgesucht, weil ich Tiere und Garten besonders spannend fand", erzählt Yara. Die Zwölfjährige schneidet mit ihren Mitschülerinnen Lina und Elodie Äpfel zurecht, die sie vom schuleigenen Apfelbaum gepflückt haben. Leckeres Futter für die Ziegen. "Bei denen muss man aufpassen, dass man sie einzeln füttert. Sonst kriegt eine zu wenig und die kabbeln sich", sagt Elodie. Auf die Frage, ob das mehr Spaß macht, als die Schulbank zu drücken, antwortet sie ohne Zögern: "Ja, auf jeden Fall!" Nicht nur Tiere Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Schüler lernen hier, wie an anderen Schulen auch. Sie haben Mathe- und Deutschunterricht, Sport, Physik und lernen Fremdsprachen. Was die Hagenbeck-Schule von anderen Schulen unterscheidet, ist ihr Leitmotiv "Biologische Vielfalt", das im Stundenplan aller Fächer verankert ist. "Alle Fachbereiche haben gesessen und überlegt, an welcher Stelle passt es, das Thema ‘Biologische Vielfalt' einzubauen", erzählt die stellvertretende Schulleiterin Claudia Krötenheerdt im Interview mit der Deutschen Welle. "Wir sind, soweit mir das bekannt ist, deutschlandweit die einzige Schule, die das macht." Und so findet sich das Thema nicht nur im Biologieunterricht wieder, sondern zum Beispiel auch im Matheunterricht, wo die Beete im Schulgarten vermessen werden; im Unterrichtsfach Wirtschaft-Arbeit-Technik (WAT), wo Halterungen für Bohnenpflanzen gebaut werden oder im Deutschunterricht, wo die Lektüre von "Die Farm der Tiere" in Bezug zum Schülerbauernhof gesetzt wird. Die Bundesregierung hatte 2007 eine "Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt" verabschiedet, mit deren Hilfe der Verlust von Arten und Lebensräumen gestoppt werden soll. Bei der Überlegung, wie ihre Schule den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufgaben gerecht werden könnte, entstand die Idee, "Biologische Vielfalt" zum Leitmotiv zu machen, so Claudia Krötenheerdt. Das war vor etwa acht Jahren. Mit Spaten und Harke lernen Im Schulgarten, der gleich neben dem Bauernhof liegt, sollen die Schüler die Pflanzen beschneiden. Ob sie alles abschneiden sollen, fragt Kolja. "Zuhören würde helfen, ich habe gesagt, nur die Vertrockneten", antwortet Elke Mahrenholz, die Betreuerin des Schulgartens. Der Zwölfjährige nestelt etwas verlegen an der Gartenschere in seiner Hand. So unaufmerksam, wie es scheint, ist er nicht. Er hat bereits einiges gelernt – zum Beispiel "was Fotosynthese ist", zählt er auf. "Und andere Sachen, wie Nachhaltigkeit, dass man aus Sachen, die man nicht mehr braucht, neue Dinge für andere Zwecke machen kann." So bestehen einige der Hochbeete im Schulgarten aus Bockspringkästen, die früher im Sportunterricht verwendet wurden. "Hier könnt ihr noch ein bisschen mehr vom Pferdemist zugeben", rät Mahrenholz den Schülern, die die vertrockneten Pflanzen entfernt haben und jetzt neue in die Hochbeete setzen. Im Winter, wenn es im Schulgarten nicht so viel zu tun gibt, bringt sie den Schülern zum Beispiel Bodenkunde nahe. Dazu gehört, wie sich Boden durch natürlichen Dünger verbessern lässt oder welche Artenvielfalt es im Boden gibt. Jetzt – im Spätsommer – gehören neben Stift und Heft aber noch Spaten und Harke zu den Unterrichtsutensilien. Die drei Schwestern Hinter den Hochbeeten kümmert sich eine Gruppe von Schülern um die sogenannten drei Schwestern. "Wir bauen hier jedes Jahr eine Mischkultur an, dieses Jahr haben wir uns auf die drei Schwestern spezialisiert. Die bestehen aus dem Mais, dem Kürbis und der Bohne", erklärt der 13-jährige Erik mit ernstem Gesicht. "Der hochstehende Mais überragt die kleineren Schwestern und bietet ihnen dadurch Schatten. Die mittlere Schwester, die Bohne, wächst an der Maispflanze hoch und bietet dadurch Halt", fügt Charlotte hinzu. Und Tabea führt die Idee zu Ende: "Der Kürbis ist die kleinste Schwester. Durch die großen Blätter bleibt die Erde feucht und es wächst kein Unkraut." Mit einem schüchternen Lächeln erntet sie den Kürbis, auf den sie während ihres kleinen Vortrags zeigt. "Die Schüler lernen in unserem Anbau die Mischkultur kennen, als eine Variante im Gegensatz zur Monokultur, wie sie in der konventionellen Landwirtschaft praktiziert wird. Dadurch wächst bei ihnen das Verständnis dafür, dass unsere Landwirtschaft weg muss von Monokultur hin zu mehr gemischtem Anbau", erläutert Mahrenholz. Der Lernerfolg zergeht manchmal regelrecht auf der Zunge: Wenn alle gemeinsam kochen, mit Gemüse und Kräutern, die sie vorher im Schulgarten geerntet haben. Es ist früher Nachmittag. Ein paar Schüler sitzen auf dem Schulhof und lassen ihre Beine baumeln. Der Hof ist hier natürlich nicht einfach ein Hof: Auf einem Teil der Fläche wiegt sich Schilf im Wind und gibt ab und zu den Blick frei auf das Schulgebäude. Der andere Teil direkt vor dem Schulgebäude ist noch öde Betonwüste, aber das soll sich bald ändern. Auch wenn es manchmal sehr langsam geht, wie Claudia Krötenheerdt sagt. Denn die Ressourcen sind knapp. Finanzielle Unterstützung kommt vom Bezirksamt und einem Förderverein, aber das alleine reicht nicht, um das vielfach ausgezeichnete Projekt Hagenbeck-Schule weiter voranzubringen. "Da ist sehr viel Eigeninitiative gefragt", sagt die stellvertretende Schulleiterin. "Wir sind auf sehr viel Kreativität angewiesen." Und die werden Eltern, Lehrerinnen, Lehrer und Mitarbeiter auch in Zukunft aufbringen. Denn alle möchten, dass die drei Ziegen und die drei Schwestern weiterhin zum Unterricht der Hagenbeck-Schule gehören. Man ist nie zu jung, um sich mit Natur und Umwelt zu beschäftigen: Autor: Mabel Gundlach
dw.com
-
Die Todesangst als ständiger Begleiter"Ich hatte riesengroße Angst, bald zu sterben", sagt Lisa Midtun. Die quälende Angst, todkrank zu sein, Leukämie zu haben, ließ sie nicht mehr los. Sie konnte kaum noch schlafen. Ihre Gedanken kreisten andauernd um ihre Symptome, ihre geschwollenen Lymphknoten: "Es begann als mein Sohn ein Jahr alt war", erinnert sie sich. Die Norwegerin war damals selbst erst 20 Jahre alt. Permanent behielt sie ihren Körper im Blick - jede vermeintliche Veränderung bestätigte sie in ihrer Sorge. Schwer krank zu sein - das war für sie keine Möglichkeit mehr, sondern Gewissheit. Sie suchte Bestätigung bei ihrer Hausärztin. Die untersuchte sie von Kopf bis Fuß, schickte ihr Blut ins Labor und bescheinigte der jungen Mutter eine fabelhafte Gesundheit. Doch der Zweifel an der Diagnose und die Angst vor der Krankheit ließen ihre Patientin nicht los. Einige Monate und viele Arzttermine später war ihrer Hausärztin klar, worunter Lisa Midtun wirklich litt: Es war keine Leukämie, sondern Krankheitsangst. Früher nannte man das Hypochondrie - die Angst, ernsthaft krank zu sein. Heute spricht keiner mehr von Hypochondern, denn "das stigmatisiert Menschen wie mich", sagt Lisa Midtun. Sie brauchte dringend Hilfe - und bekam sie in ihrer Heimatstadt Bergen: Hier befindet sich Europas einzige Spezialklinik für Patienten mit Krankheitsangst. Erlebnisse in der Vergangenheit Die kleine Klinik für Krankheitsangst befindet sich auf der sechsten Etage des Haraldsplass Diakonale Krankenhaus. Die Klinik liegt an einem Hang. Bei freier Sicht hat man einen wunderschönen Blick über das Tal, in dem die Stadt liegt, bis zu den Bergen auf der anderen Seite. Lisa Midtuns Sicht auf ihr Leben war lange getrübt. Angst dominierte ihre Gedanken und ihren Alltag - bis sie 2003/2004 bei Psychiater Ingvard Wilhelmsen ihre Behandlung begann. Wilhelmsen, Gründer der Klinik, ging ihrer Angst auf den Grund. "Zu Beginn der Therapie frage ich Patienten nach ihren einschneidenden Erlebnissen", sagt Wilhelmsen. Lisa Midtun hatte früh Krankheit erlebt und Verlust. Ihre Mutter starb, als sie sechs Jahre alt war. "Eine Woche nach ihrer Krebsdiagnose war sie tot", berichtet sie gefasst. Als älteste Tochter wuchs Lisa mit ihren Geschwistern und Halbgeschwistern bei ihrem Vater auf, einem Piloten - einem "sehr männlichen Mann", wie sie sagt. Sie habe ihn das erste Mal nach dem Tod der Mutter weinen sehen. Ihre Angst vor Krankheiten kam dann später - mit der Geburt ihres ersten Sohnes. Zuerst befürchtete sie, er könnte bald sterben. Doch dann entdeckte sie erste Anzeichen der Angst um ihr eigenes Leben: Mal waren es Kopfschmerzen, mal Blutergüsse, mal Abgeschlagenheit. Und immer befürchtete Lisa Midtun, dass sie schwer krank ist. "Ich habe mir sogar ein medizinisches Buch gekauft" - ein Fehler, sagt sie heute. Das Nachschlagen der Symptome löste in ihr immer wieder die Überzeugung aus, dass sie todkrank war. "Ich war nicht auf eine Krankheit fixiert, aber ich habe immer eine gefunden, die zu meinen Symptomen passte." Die vermeintlichen Diagnosen stellte sie alle selbst: Leukämie, Lymphdrüsenkrebs, ein Gehirntumor, später auch Multiple Sklerose. "Ich habe mich gefühlt, als halte mir jemand die Pistole an die Schläfe und ich wartete darauf, dass jemand abdrückt." Während die meisten Menschen froh sind, wenn der Arzt Entwarnung gibt und keine körperliche Ursache finden, war Lisa Midtun nur für wenige Stunden beruhigt: "Ich dachte, meine Ärztin sei die schlechteste Medizinerin der Welt." Auch ihr Ehemann konnte sie nur für kurze Zeit beruhigen. Da musste etwas sein. "Tagsüber habe ich funktioniert, habe mein Lehramtsstudium beendet. In der Nacht habe ich geweint, weil ich dachte, dass ich bald sterben würde und mein Sohn dann keine Mutter mehr hat." Sechs Monate nach den ersten Arztbesuchen begann sie ihre kognitive Verhaltenstherapie. Körpersymptome werden intensiv wahrgenommen Bei Ingvard Wilhelmsen hat Lisa Midtun sich auf Anhieb wohlgefühlt: "Er hat mir zugehört und mich und meine Ängste ernst genommen." Menschen mit Krankheitsangst würden oft als hysterisch gelten, man sagt ihnen nach, Aufmerksamkeit zu suchen, sagt Wilhelmsen. Fast jeder meine, ihn zu kennen, den typischen "Hypochonder" - einer, der beim kleinsten Husten denkt, er sei schwer krank. Doch das ist das Klischee. Für die Betroffenen selbst und für ihr Umfeld bestehe eine starke Belastung, sagt der Psychiater: "Sie haben wirklich pure Todesangst", erklärt er - so wie Lisa Midtun. Manche Patienten würden Besuche beim Arzt sogar meiden - aus Sorge, dass er ihnen bestätigt, dass sie krank sind, sagt Wilhelmsen. Diese Patienten seien besonders hilflos. Menschen mit einer Krankheitsangststörung nehmen Körpersymptome intensiv wahr - sie "schenken ihnen sehr viel Aufmerksamkeit", sagt Wilhelmsen. Das ist ein Teufelskreis, "denn dann beginnt eine erhöhte Adrenalinproduktion, das Herz rast und man schwitzt vor lauter Angst". Diese Symptome verstärkten erneut die Angst. Patienten sind oft kreative Menschen Lisa Midtun, Lehrerin für Englisch und Geschichte, hatte nie Angst vor Bakterien oder Infektionen: "Die Arbeit in der Schule mit den Kindern hat mir nie etwas ausgemacht." Sie fürchtete sich vor den wirklich gefährlichen Krankheiten. Warum manche Menschen diese Störung entwickeln, lässt sich nicht eindeutig beantworten. "Die meisten Patienten sind sehr kreative Menschen", sagt Wilhelmsen. Meist seien sie beharrlich und versuchten, alles zu kontrollieren. "Sorge wird dabei zu einer Art Kontrolle über etwas Unkontrollierbares", sagt er. Die Sterblichkeit akzeptieren Der Psychiater selbst ist mit Mitte 30 an der Autoimmunerkrankung Transverse Myelitis erkrankt, einer seltenen neurologischen Erkrankung, die das zentrale Nervensystem betrifft. Heute ist er 68. "Man kann sich nicht aussuchen, ob man gesund oder krank ist, aber man kann sich aussuchen, ob man daran glaubt, gesund zu sein, wenn es so ist. Die Einstellung muss sich ändern." Besonders wichtig sei aber: "Patienten müssen akzeptieren, dass sie sterblich sind." Daran arbeitete er auch mit Lisa Midtun. "Ingvard Wilhelmsen sagte mir, dass jeder Mensch ein Projekt hat: Meins bestand darin, zu überleben. Doch niemand lebt für immer. Also war mein Projekt von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das habe ich begriffen", versichert sie: "Ingvard Wilhelmsen war im Verlauf der gesamten Therapie so überzeugend." Manchmal erzählt der Psychiater seinen Patienten ihre eigene Geschichte laut: "Manche beginnen zu lachen und sagen mir, 'Wilhelmsen, das klingt total krank'." Sie merkten schnell, dass viele ihrer Gedanken irrational seien. Eine Antwort auf ein mögliches Ereignis in der Zukunft zu suchen, sei nicht möglich. "Sie müssen diesen konstanten Zweifel aus dem Weg räumen", sagt er: "Das können sie nur, wenn sie selbst entscheiden, der Angst nicht länger zu vertrauen." Symptome anders deuten Die Zahl der Menschen, die an Gesundheitsangst leiden, ist nur schwer zu schätzen, denn viele Patienten suchen aus Schamgefühl keinen Arzt auf. Verschiedenen Angaben zufolge soll ein Prozent der Norweger daran leiden. In Deutschland soll jeder zehnte von Krankheitsangst betroffen sein. Tendenz steigend. Denn immer mehr Menschen suchen im Internet Informationen zu Krankheitsbildern. Bei einigen verstärkt sich dadurch die Angst vor Krankheiten. Cyberchondria heißt dieses Phänomen. Ingvard Wilhelmsen behandelt in seiner kleinen Klinik im norwegischen Bergen etwa 100 Patienten pro Jahr. Die meisten kommen mit nur fünf ambulanten Sitzungen aus. "Zehn Jahre später geht es vielen von ihnen immer noch gut", sagt er. Wilhelmsen ist es wichtig, dass Midtun und die anderen Patienten am Ende der Behandlung ihre Haltung zum Thema Gesundheit und Krankheit ändern. Lisa Midtun hat nach der Geburt ihres zweiten Sohnes 2007 noch eine sechste Therapiestunde in Anspruch genommen, "da ist noch mal was hochgekommen", sagt sie. Aber seither habe sie gelernt, ihren Symptomen nicht mehr so viel Bedeutung zu schenken. Und sie habe ihr medizinisches Buch weggeworfen. Auch das Internet nutze sie nicht mehr, um nach Symptomen zu suchen: "Ich habe mir ein neues Projekt für mein Leben gesucht. Ich konzentriere mich auf das Leben im Jetzt, meine Familie und meine Freunde", sagt sie lächelnd. "Ich akzeptiere, dass es Unsicherheiten im Leben gibt." Ihrem Vater hat sie lange Zeit nichts von der Therapie und ihren Sorgen erzählt. Sie wollte ihn damit nicht belasten. Wilhelmsen habe sie ermutigt, offen darüber zu sprechen. Durch die Therapie habe sie ihr Leben zurück, sagt sie. Heute ist Lisa Midtun 34 Jahre alt und hat drei Söhne. Autor: Diana Hodali (Bergen)
dw.com
-
European XFEL: Erste Bilder des Röntgenlasers begeistern ForscherKnapp ein Jahr nach der Inbetriebnahme des Freien-Elektronen-Lasers für Röntgenlicht (X-Ray Free-Electron Laser) hat ein internationales Forscherteam um Professor Ilme Schlichting vom Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg die weltweit erste Publikation mit Forschungsergebnissen veröffentlicht. In der Fachzeitschrift Nature Communicationsbeschreiben die Forscher drei verschiedene Eiweißmoleküle aus Pflanzen. Während ihres Experiments nahmen die Forscher Tausende von Bildern der Moleküle auf. Damit konnten sie dreidimensionale Modelle berechnen, die gut genug waren, um die verschiedenen Moleküle unterscheiden zu können. Adrian Manusco, leitender Wissenschaftler an der Experimentierstation am XFEL beschrieb die Publikation als "Meilenstein". Im nächsten Schritt möchte er nun, die Anlage nutzen, um Moleküle in Aktion zu filmen, sagte Manusco. Erst 2017 in Betrieb genommen Der XFEL ist stolze 3,4 Kilometer lang. Die Forschungsanlage reicht vom Gelände des Deutschen Elektronensynchrotron (DESY) im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld bis nach Schenefeld im Kreis Pinneberg in Schleswig Holstein. Mehrere wissenschaftliche Labore können das superhelle Röntgenlicht nutzen. Es kommt über Rohre zu ihnen, die ähnliche Dimensionen wie Wasserleitungen in einem Haushalt haben. Zur Zeit sind nur zwei Labore angeschlossen, in Zukunft sollen es sieben sein. Diese Labore bieten Forschern ungeahnte Möglichkeiten: In der Materialforschung lassen sich etwa Nanostrukturen genau studieren. Physiker können Materie extremen Drücken und Temperaturen aussetzen und herausfinden, wie diese sich unter riesigen Energiedichten verhält. Sie können damit Zustände erzeugen, wie sie bei der Entstehung des Universums herrschten. Oder sie können mit hochpräzisen Spektroskopen andere Geheimnisse lüften. Biochemiker und Mediziner können sich Biomoleküle detailliert anschauen, Viren molekular entschlüsseln oder auch herausfinden, was schief läuft, wenn der menschliche Körper plötzlich Krebszellen produziert. Extrem kurz, extrem hell Die Röntgenblitze, die am Ende der Anlage herauskommen, dauern etwa 0,000.000.000.000.01 (zehn Billiardstel) Sekunden - oder anders ausgedrückt - zehn Femtosekunden. Von diesen Blitzen gibt es pro Sekunde 27.000. Ihre Wellenlänge ist extrem kurz: 0,005 bis 4,7 Nanometer. Das reicht aus, um Details von Atomen zu zeigen. Die riesige Anzahl von Bildern pro Sekunde wiederum macht es möglich, Aufnahmen von Reaktionsprozessen zu schießen, die noch nicht abgeschlossen sind. Bisher war so etwas nicht möglich. Die gesamte Chemie, wie wir sie kennen, beruht darauf, dass man sich einen Zustand vorher und einen Zustand nachher anschaut und aufgrund unseres physikalischen und mathematischen Wissens theoretische Rückschlüsse darauf zieht, wie sich die Moleküle und Atome dazwischen verhalten haben müssen. Mit XFEL lassen sich solche Reaktionsprozesse zum ersten Mal quasi in Echtzeit beobachten und filmen. Ein Kilometerlanger Tunnel zum Forschungscampus Die Röntgenblitze, mit denen die Forscher arbeiten, bestehen aus Elektronen, die in extrem kurzen gepulsten Paketen im Labor ankommen. Die Elektronenpakete werden durch gepulsten Laserbeschuss extra erzeugt. Dann fliegen sie durch eine 1,7 Kilometer lange geradlinige Beschleunigungsstrecke. Diese besteht aus supraleitenden Kammern, in denen eine Mikrowellenstrahlung schwingt und die Teilchen so antreibt. Die Kammern sind auf Minus 271 Grad Celsius heruntergekühlt - damit der Strom in der Anlage widerstandsfrei fließen kann. Das Ganze findet in einem Tunnel statt - 15 bis 38 Meter tief unter der Erde. Mit nahezu Lichtgeschwindigkeit und hohen Energien von bis zu 17,5 Milliarden Elektronenvolt werden die Elektronenpakete über Weichen zu den unterschiedlichen Labors gelenkt. Von Europa gebaut für Forscher aus der ganzen Welt Die ersten Wissenschaftler, die den Zuschlag für Forschungen am European XFEL bekommen hatten, waren Teams um den Australier Anton Bartyund den polnischen Forscher Wojciech Gawelda. Beide arbeiten am DESY. Auch britischen und russischen Forschern wurde zu Beginn des Betriebes Experimentierzeit eingeräumt. Bisher forschen Teams und Wissenschaftler aus 35 Universitäten und Forschungseinrichtungen aus aller Welt am European XFEL. XFEL ist ein europaweites Kooperationsprojekt. Deutschland trägt 58 Prozent der Kosten und Russland 27 Prozent. Die weiteren Teilnehmerstaaten sind Dänemark, Frankreich, Italien, Polen, Russland, Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Spanien und Ungarn mit jeweils einem bis drei Prozent der Kosten.
dw.com
Autor: Anne Höhn