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«Warum sind so viele Chefs Irre und Psychopathen?» – Wie Vorgesetzte ihre Mitarbeiter plagen

Neue Zürcher Zeitung Deutschland-Logo Neue Zürcher Zeitung Deutschland 25.11.2022 Birgit Schmid
Die Methoden sind subtiler geworden. Horst Müller / Ullstein / Getty © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland Die Methoden sind subtiler geworden. Horst Müller / Ullstein / Getty

Sie klingen wie ein Anachronismus, die Vorgesetzten, die ihren Mitarbeitern das Leben schwer machen. Heute werden Machtmissbrauch und übergriffiges Verhalten so breit thematisiert, dass neurotische, manipulative Chefs eigentlich aus der Arbeitswelt verschwunden sein müssten.

Das sind sie aber nicht. Zwar gehen sie nicht mehr wie Sklaventreiber durch die Pultreihen und kontrollieren mit einem Blick über die Schulter, ob da auch wirklich gearbeitet wird. Sondern sie intrigieren im Verborgenen und gehen bei der Schikane strategischer vor. Die Drangsaliermethoden sind subtiler geworden.

Die beiden Psychologen Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader beraten in ihrem «Büro für Berufsstrategie» in Berlin Leute, die es an ihrem Arbeitsplatz nicht mehr aushalten. Einer der meistgenannten Gründe: der Chef. In ihrem neuen Ratgeber «Mein Chef ist irre – Ihrer auch?» erzählen sie, was ihre Klienten erleben.

Da ist der Chef, der nicht duldet, wenn jemand vor ihm nach Hause geht. Wer es wagt, wird vor allen andern abgekanzelt. Ein anderer Chef sagt seiner Angestellten, als sie sich abmeldet, da ihre Mutter gestorben sei: «Das ist heute aber ganz unpassend.» Es soll Chefinnen geben, die abends die Papierkörbe nach Indizien dafür durchsuchen, dass ihre Mitarbeiter faul seien und zu nichts zu gebrauchen.

Man hat es selber erlebt, oder dann wissen HR-Abteilungen davon zu berichten: von Chefs, die Pflanzen und persönliche Gegenstände auf den Schreibtischen wegwerfen mit den Worten: «Privater Kram gehört nicht ins Büro.» Die Praktikantin bezeugte das später. Noch unglaublicher klingt die Geschichte des Kollegen, der seine eigene Kündigung neben dem Drucker fand. Er glaubt nicht an Zufall.

Die Macht verschiebe sich von den Arbeitgebern hin zu den Arbeitnehmern, heisst es. Beim gegenwärtigen Fachkräftemangel könnten die Angestellten den Job zunehmend zu ihren eigenen Bedingungen gestalten. Die junge Generation wolle keine Überstunden mehr leisten, nicht mehr erreichbar sein nach abends um fünf. Sie ziehe Dienst nach Vorschrift vor.

Man spricht bei dieser Lebensphilosophie von «Quiet Quitting», der innerlichen Kündigung, die ihre Anhänger vollziehen: Bevor sie im Job richtig ankommen, sind sie schon wieder am Gehen.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen zeigt sich aber, dass Vorgesetzte immer noch eine erhebliche Macht haben. So kursiert neuerdings ein Begriff, der als Antwort auf «Quiet Quitting» folgt: Unter dem Hashtag #Quiet Firing berichten junge Arbeitnehmer in den sozialen Netzwerken, wie sie von ihren Chefs aus dem Job gedrängt werden.

Sie ging im Verteiler «vergessen»

Beim «stillen Gefeuertwerden» schikaniert ein Vorgesetzter die Leute so lange, bis sie von sich aus kündigen. Es werden ihnen Projekte entzogen, man übergeht sie bei einer Beförderung, sie bekommen stumpfsinnige Aufgaben zugeteilt. Sie gehen im Mail-Verteiler «vergessen», oder der Chef kritisiert sie ohne sachliche Gründe. Oft handelt es sich dabei nicht um offenes Mobbing, sondern die Botschaft, dass man unerwünscht ist, erfolgt unterschwellig.

Natürlich ist «Quiet Firing» bloss ein neuer Name für Verhaltensmuster, die es schon immer gab. Nicht zufällig erregt das Phänomen jetzt Aufsehen, da bisherige Werte der Arbeitswelt infrage gestellt werden. Arbeitnehmer lassen sich weniger gefallen und empfinden ein Verhalten schnell als unangebracht. Sagt der Chef: «Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen», beginnt man gedanklich bereits den Schreibtisch zu räumen. Früher duckte man sich weg und dachte: «Hat der wieder schlechte Laune.»

Wenn es nur miese Stimmung wäre, wie sie jeder einmal hat – doch bei manchen Vorgesetzten zeigt sich in ihrem Benehmen die Persönlichkeit. Die charakterlich Auffälligen besetzten überproportional häufig Führungspositionen, schreiben Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader in ihrem Buch über irre Chefs. Die beiden Autoren scheuen die Benennungen nicht, wenn sie fragen: «Warum finden wir unter unseren Chefs so viele Irre und Psychopathen?»

Zwei von drei Angestellten halten ihren Chef für fachlich und charakterlich ungeeignet, wie eine repräsentative Umfrage in Deutschland ergab. Natürlich ist bei solchen Einschätzungen auch der Machtlose nicht immer objektiv. Man reagiert empfindlich auf das Machtgefälle. Auch der Blick von Angestellten auf ihre Vorgesetzten ist nicht immer gerecht. Doch Studien bestätigen das Empfinden vieler: Je nach Untersuchung sind zwischen 6 und 25 Prozent der Führungskräfte psychopathisch veranlagt. Je weiter oben in der Hierarchie, desto verrückter.

Das heisst nicht, dass jeder Vorgesetzte, der sich schlecht benimmt, auch psychisch krank ist, wie die Autoren selber einräumen. Weniger krass ausgedrückt, lautet der Befund: Auf den Führungsetagen ist der Anteil Menschen mit ausgeprägten Persönlichkeitsmerkmalen sechsmal so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt.

Der Chefsessel zieht Narzissten an

Man weiss, wer mit dem «Psycho-Chef» gemeint ist, der auch bloss ein Neurotiker sein kann. So haben viele von ihnen stark narzisstische Züge. Sie sind absolut von sich überzeugt und wirken einnehmend darin. Deshalb haben sie die Spitzenposition ja auch erhalten. Sie sind furchtlos. Sie können sich insofern in andere einfühlen, als sie diese zu manipulieren wissen. Gut im Schauspielern, lügen sie, wann immer nötig. Sie erzählen vertrauliche Dinge weiter, um die Mitarbeiter einzuschüchtern, zu terrorisieren oder gegeneinander auszuspielen.

Ebenfalls typisch für den narzisstischen Chef: Er behandelt jeden neuen Mitarbeiter besser als das übrige Team, da er an der unverbrauchten Beziehung seine eigene Grösse besser spiegeln kann. Er interessiert sich aber nur so lange für den Neuen, wie dieser ihn vorbehaltlos bejaht. Jeder, der etwas zu kritisieren wagt, wird im Extremfall aussortiert – davon sind Freunde wie Angestellte betroffen.

Toxisch wird es bei einer Mischung aus narzisstischer und paranoider Persönlichkeit. Dieser Typus fühlt sich schnell bedroht und wittert bereits eine Verschwörung, wenn sein Team zusammen mittagessen geht.

Doch bei aller Polemik gegen die Mächtigen: Ein gewisses Mass an Wahnsinn scheint nötig, um ganz nach oben zu gelangen.

Der Prototyp des unausstehlichen, aber auch genialen Konzernchefs ist Elon Musk. Zeigen seine Mitarbeiter nicht dieselbe Leistungsbereitschaft und Hingabe wie er, bekommen sie seine Verachtung zu spüren. So hat er die Angestellten bei Twitter vor das Ultimatum gestellt, entweder sich zu Überstunden zu verpflichten oder zu kündigen. Als seine langjährige Assistentin und Vertraute bei Tesla um eine Gehaltserhöhung bat, feuerte er sie. «Ist die reichste Person der Welt der schlechteste Chef der Welt?», fragte die «Los Angeles Times». Ein Widerspruch ist das nicht.

Männer wie Musk haben einen Geltungsdrang, sie sind aber auch bereit, hart dafür zu arbeiten. Ein Unternehmen profitiert von ihrem visionären und risikobereiten Denken. Längerfristig können die egomanen Eigenschaften eines Chefs einer Firma aber auch schaden, wie zahlreiche Beispiele aus der Finanzbranche zeigen.

Der amerikanische Präsident Abraham Lincoln hat gesagt: «Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.» Für den Willen zur Macht braucht es bestimmte Eigenschaften, die einem beim Erlangen der Macht helfen. Ist man einmal an der Macht, treten diese Eigenschaften umso stärker zutage.

Nicht jeder fiese Spruch ist schon Mobbing

Die Autoren Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader erklären das grenzwertige Verhalten von «irren Chefs» mit frühkindlichen Erfahrungen: lieblosen Eltern, dem Gefühl des Ausgeliefertseins oder Ungenügens. Solche Defizite kompensieren diese Menschen demnach durch Macht. Sie haben überhöhte Ansprüche an sich selbst und erlangen ein Gefühl von Kontrolle durch die Tyrannei anderen gegenüber.

Solche Psychologisierungen entschuldigen aber noch nicht die Tyrannei. Und sie helfen auch den Mitarbeitern nicht. Was können diese tun? Sie dokumentieren etwa alle Verfehlungen des Vorgesetzten, damit sie etwas in der Hand haben, sollte es hart auf hart kommen.

Doch bis jemand belangt werden könne, brauche es einiges, sagt die auf Arbeitsrecht spezialisierte Zürcher Anwältin Regula Bärtschi. Gerade Jüngere schätzten das oft falsch ein: Nicht jede Kritik oder jede als Demütigung empfundene Handlung ist schon Mobbing, ein fieser Spruch noch kein Beweis für systematisches Niedermachen, gegen das man rechtlich vorgehen kann.

Der jungen Generation werde es heute schnell «zu viel», sagt Bärtschi. Dennoch findet sie gut, dass diese nicht mehr alles akzeptiert. In ihrer Kanzlei wurden die Fälle von Konflikten mit Vorgesetzten jedenfalls nicht weniger, ausser vielleicht, was sexuelle Belästigung betrifft: «dank Gleichstellungsgesetz und #MeToo».

Trotz New Work und einer neuen Arbeitskultur, in der flache Hierarchien und eine Führung angesagt sind, bei der die Mitarbeiter in Entscheidungen mit einbezogen werden und ihnen Verantwortung übertragen wird; trotz Firmen, die ihren Werte- und Verhaltenskodex auf das Wohl der Angestellten ausrichten: Der sein Team drangsalierende Chef stirbt nicht aus. Selbst die Autoren von «Mein Chef ist irre – Ihrer auch?» lässt dies resignieren. Wiederholt raten sie als Massnahme gegen fiese Chefs, «rechtzeitig zu gehen». Zu kündigen.

Wer sich das nicht getraut, hat heute eine wirksame Waffe: Er kündigt innerlich. So behält er die Fassung, wenn er dann wirklich gefeuert wird.

Jürgen Hesse, Hans Christian Schrader: Mein Chef ist irre - Ihrer auch? Econ-Verlag, Berlin 2022. 368 S.

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