Der erste Kontakt: ChatGPT ist erst der Anfang
Stuart Russell, ein international renommierter Fachmann für Künstliche Intelligenz (KI), regte einmal folgendes Gedankenexperiment an: Was wäre, wenn die Menschheit erführe, dass in fünfzig Jahren eine womöglich intellektuell überlegene außerirdische Zivilisation auf der Erde einträfe? Russell warf diese Frage auf während einer Diskussion darüber, ob und wann es tatsächlich Computer geben könnte, die mit dem menschlichen Gehirn vergleichbar sind. Und wieso es lohnt, sich schon jetzt damit zu befassen.
Als sich die Künstliche Intelligenz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als eigenständige Disziplin herauszubilden begann, hatten die damaligen Vordenker genau diese Vision: Sie wollten eben nicht einfach ein unschlagbares Schachprogramm erfinden, sondern die menschliche Intelligenz insgesamt entschlüsseln und technisch reproduzieren – mit ausreichend Rechenleistung und probater Mathematik. Zahlreiche vollkommen überzogene Vorhersagen hat es seither gegeben. Und auch in aktuelleren Umfragen liegen die Einschätzungen der KI-Kenner bisweilen erheblich auseinander, wenn sie prognostizieren sollen, wann das ursprüngliche Ziel ihres Faches erreicht sein wird.
Open AI nutzt die Chancen eines Start-ups
Das Sprachmodell ChatGPT, das gerade überall für Schlagzeilen sorgt, ist ebenfalls noch weit davon entfernt, so etwas wie eine echte künstliche Superintelligenz zu sein. Es versteht und durchdringt die Welt längst nicht so, wie das ein Mensch vermag. Gleichwohl ist beeindruckend, wie diese KI mit Sprache umgehen, wie kompetent und ausführlich sie auch spezifische Fragen beantworten oder sogar Programmier-Code schreiben kann – trotz der teils gravierenden Fehler, die diesem System immer wieder unterlaufen. Unzählige Menschen haben das Programm schon ausprobiert und so einen persönlichen Eindruck davon bekommen, wie mächtig diese Schlüsseltechnologie inzwischen ist.
Für die vom Informatikkonzern Microsoft mit enormen Mitteln unterstützte Unternehmung Open AI hat sich als Geniestreich entpuppt, ChatGPT öffentlich zugänglich zu machen. Besser als durch die daraufhin entstandene vielstimmige digitale Mundpropaganda hätte keine Marketingabteilung das System und seine Leistungsfähigkeit bekannt machen können. Und natürlich lernen die ChatGPT-Entwickler zugleich aus dem, was die vielen freiwilligen Programm-Tester tun und welches Feedback sie geben.
Sprache ist keine harmlose Domäne
Open AI nutzt an dieser Stelle übrigens auch geschickt die Chancen als aufstrebendes Start-up, das (noch) nicht an denselben Qualitätsmaßstäben gemessen wird wie ein dominierender Diensteanbieter wie Alphabet (Google) oder Meta (Facebook); in gewisser Hinsicht ist das durchaus vergleichbar mit der Position Teslas gegenüber den traditionellen Automobilherstellern. Metas oberster KI-Forscher Yann LeCun hat jedenfalls einen Punkt, wenn er nun – notgedrungen – darauf hinweist, dass sein eigenes Unternehmen und vor allem Alphabet über dieselbe KI-Technologie und ähnliche Sprachmodelle verfügen. Der nun von Google vorgestellte KI-Dienst „Bard“ ist nur ein Beispiel dafür.
Das wiederum ist der tiefere Grund, aus dem sich Deutschland – der einzelne Bürger ebenso wie jedes Unternehmen – dringend damit auseinandersetzen muss. Die auf dem Lernen, auf immer schnelleren Prozessoren und gewaltigen Datenmengen basierende Künstliche Intelligenz hat ein neues Niveau erreicht, sie ist allgemeiner kompetent und einsetzbar.
Programme wie ChatGPT können keine Brötchen backen, Haare schneiden oder Supermarktregale einräumen, sie betreffen vermutlich den Arzt eher als den Krankenpfleger. Verbunden mit IT-Fortschritten in anderen Bereichen, könnten sie allerdings revolutionieren, wie wir mit Computersystemen umgehen, wie sie in unserer professionellen und privaten Umgebung eingebettet sind und sich auswirken.
Gerade Sprache ist schlussendlich keine so harmlose Domäne, wie das vielleicht klingt: Wir verwenden sie nicht nur, um zu kommunizieren, sondern zum Nachdenken, Kategorisieren, Spekulieren oder um Wissen weiterzugeben – Sprache sinnvoll einzusetzen erfordert ein grundsätzliches Verständnis davon, wie die Welt funktioniert. Wenn Computer darin besser werden, wenn sie zum Menschen aufschließen, dann ist das keine Kleinigkeit, weder kulturell noch kommerziell.
ChatGPT und die KI-Sprachsysteme, die demnächst herauskommen, werden keine künstlichen Gehirne sein. Vielleicht werden die Jahre 2022 und 2023 aber dereinst in die Geschichte eingehen als jene Zeit, in der viele Menschen zum ersten Mal Kontakt hatten zu einem sehr frühen Vorläufer allgemeiner Künstlicher Intelligenz.