Sie verwenden eine veraltete Browserversion. Bitte verwenden Sie eine unterstütze Versiondamit Sie MSN optimal nutzen können.

Völkerrecht und Moral im Ukrainekrieg: Der Sinn der Selbstverteidigung

Frankfurter Allgemeine Zeitung-Logo Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.01.2023 Matthias Goldmann
Häuser und Städte können von russischen Raketen zerstört werden; die Begriffe des Völkerrechts nicht. Rettungsarbeiten in Dnipro am 15. Januar 2023 © Reuters Häuser und Städte können von russischen Raketen zerstört werden; die Begriffe des Völkerrechts nicht. Rettungsarbeiten in Dnipro am 15. Januar 2023

Reinhard Merkel hat am 28. Dezember 2022 im Feuilleton der F.A.Z. eine ethische Pflicht der Ukraine konstatiert, sich ohne Vorbedingungen auf Verhandlungen mit Russland einzulassen. Diese Pflicht bestehe unbeschadet des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts, das der Ukraine eine Fortsetzung der Kampfhandlungen gestatte. Diese These wirft die Frage nach dem Verhältnis zwischen (Völker-)Recht und Ethik auf, die in den Twitter-Debatten zu Merkels Text nicht mit der notwendigen Tiefe beleuchtet worden sind. Nach meinem Verständnis ergeben sich aus diesem Verhältnis gewichtige Einwände gegen Merkels These.

Merkel bezieht in seinem Text nicht ausdrücklich Stellung zum Verhältnis zwischen Ethik und Recht. Helmut Philipp Aust hat in seiner in der F.A.Z. am 2. Januar publizierten Replik herausgearbeitet, wie Merkels Position zwischen völkerrechtlichen und ethischen Prämissen oszilliert. Ethische Prämissen werden gegen völkerrechtliche Normen gewendet, dann aber wieder durch Verweis auf andere völkerrechtliche Normen bekräftigt. Daraus ergibt sich ein Bild von Ethik und Recht als autonome Systeme. Nach Merkel hat das moderne Völkerrecht das Gewaltverbot „entmoralisiert“. Darrel Moellendorf pflichtet ihm in seiner am 17. Januar an gleicher Stelle erschienenen Erwiderung insoweit bei.

Für Kant ist Recht zwangsbewehrte Moral

Diese Position Merkels halte ich für unzutreffend. Die völkerrechtlichen Re­geln über die Kriegsführung stehen seit jeher in engem Zusammenhang mit mo­ralphilosophischen Erwägungen; sie er­gänzen sich und lassen sich nicht nach der Art von Merkel gegeneinander ausspielen. Bereits für Merkels Gewährsmann Kant ist Recht eigentlich nichts anderes als zwangsbewehrte Moral. Widersprüche zwischen Recht und Mo­ral sind demnach praktisch ausgeschlossen. In der Tat war die theoretisch ambitionierte Völkerrechtslehre des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie etwa der Schweizer Emer de Vattel vertrat, nichts anderes als angewendete Moralphilosophie. Die „Positivisten“ seiner Zeit wie der Württemberger Johann Jacob Moser und in der Tendenz auch der Göttinger Georg Friedrich von Martens begnügten sich dagegen mit reichlich drögen Sammlungen der diplomatischen Praxis.

Das änderte sich ein Stück weit mit der beginnenden Kodifizierung des Völkerrechts im neunzehnten Jahrhundert. Völkerrecht war nun, was die Staaten als Völkerrecht vereinbart hatten. Doch die Entkopplung von der Moralphilosophie gelang vollständig nur in der Theorie, etwa bei John Austin – der ironischerweise dem Völkerrecht mangels Durchsetzbarkeit den Rechtscharakter gleich mit absprach. In der Praxis blieb sie unvollständig; die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts strotzt förmlich vor Bezugnahmen auf philosophische Konzepte. Raphael Schäfer hat jüngst in einer preisgekrönten Heidelberger Dissertation nachgezeichnet, welchen hohen Stellenwert das Prinzip der Humanität in der Bismarckschen Außenpolitik besaß, und sei es nur aus taktischen Erwägungen heraus.

Im zwanzigsten Jahrhundert wurde die positivistische Entkopplung von Recht und Moral zusehends unhaltbar – wenngleich es zutiefst ahistorisch wäre, dem Rechtspositivismus eine Verantwortung für das NS-Regime zuzuschreiben. Philosophen wie Judith Shklar, Joseph Raz, Ronald Dworkin und Jürgen Habermas und selbst die ökonomische Analyse des Rechts stimmen bei allen Unterschieden überein in der Annahme eines engen Zusammenhangs zwischen Recht und Moral, der Widersprüche zwischen beiden Ordnungen nur in engen Grenzen zulässt. Recht ist von ethischen Prinzipien durchdrungen und steht bei seiner Auslegung und Anwendung in Wechselwirkung mit diesen.

Lehren aus dem Kosovokrieg

Das gilt insbesondere für das völkerrechtliche Gewaltverbot. Der Lehre vom gerechten Krieg entsprungen, stützt sich seine Autorität nicht zuletzt auf seine moralische Überzeugungskraft. Denn der Zwangscharakter des Völkerrechts ist an diesem entscheidenden Punkt chronisch defizitär. Insofern ist es nicht richtig, dass die Lehre vom gerechten Krieg mit der Satzung der Vereinten Nationen verschwunden sei. Sie lebt vielmehr in ihr fort. Das zeigt sich etwa in der Erhebung des Gewaltverbots zum „zwingenden Völkerrecht“ oder in den Debatten über seine Grenzen. Man denke nur an den Kosovokrieg, den auch Deutschland als humanitäre Intervention einer Regionalorganisation zur Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen bei blockiertem Sicherheitsrat für gerechtfertigt hielt. Eine ju­ristische Argumentation, die sich weitreichender moralischer Erwägungen be­dient. Umgekehrt hält Jürgen Habermas die Kompetenzen des UN-Sicherheitsrats wegen ihrer stabilen moralischen Basis für erträglich, wenngleich dem Sicherheitsrat die demokratische Legitimität fehle.

Darrel Moellendorf, der Erfinder des „ius ex bello“, übergeht diese Wechselwirkung von Recht und Ethik, indem er analytisch vorgeht, also von abstrakten Prinzipien her argumentiert, nicht hermeneutisch-rekonstruktiv wie Habermas. Ich bin kein Philosoph; die Ge­schichte des Gewaltverbots weckt bei mir aber Zweifel am Wert ethischer Erwägungen in Absehung von der Rechtslage. Unsere moralischen Prinzipien entstehen im Wechselspiel mit konkreten Erfahrungen, und diese sind eben auch vom Recht geprägt. Je pluralistischer eine Gesellschaft, desto weniger lassen sich abstrakte Prinzipien voraussetzen, und desto wichtiger ist ihre Rückbindung an konkrete Erfahrungen. Nur das Wirkliche ist vernünftig, meinte da­her Hegel. Das lässt sich im Völkerrecht täglich erfahren; die real existierenden Diskurse über die rechtliche Zulässigkeit eines Waffengangs lassen sich nie von seiner moralischen Beurteilung ablösen.

Moralische Grenzen gehören zum Selbstverteidigungsrecht

Kann es demnach überhaupt eine Diskrepanz von Ge­waltverbot und Ethik ge­ben? Sicherlich. Ethische Überzeugungen sind ein wichtiges Reservoir der Rechtsanwendung und -fortbildung. Die Annahme einer solchen Diskrepanz darf jedoch nicht leichthin erfolgen; vielmehr folgt aus ihr fast schon zwingend, dass das Recht entsprechend anzupassen ist. Wenn Merkel von einer ethischen Pflicht der Ukraine zu vorbedingungslosen Verhandlungen ausgeht, legt er damit die Axt an der Reichweite des Selbstverteidigungsrechts an. Zwar behauptet er, das Völkerrecht schweige lediglich zum „ius ex bello“, den Normen über die Pflicht der Kriegsbeendigung. In der Sache tut es das aber gerade nicht, indem es das Recht auf Selbstverteidigung nicht von der Erreichbarkeit der Kriegsziele abhängig macht.

Diese Weite des Selbstverteidigungsrechts ist sowohl rechtlicher als auch ethischer Natur. Diese Doppelgestalt des Selbstverteidigungsrechts ergibt sich bereits aus dem Text des Artikels 51 der UN-Satzung, der es als „inherent right“ bezeichnet. Systematisch gesehen ist es essenzieller Teil einer globalen Friedensordnung, mit der die Staatengemeinschaft der kantischen Pflicht zum Austritt aus dem „Naturzustand“ und zur Errichtung eines Staatenbunds nachgekommen ist, um laut der Präambel „die kommenden Generationen vor der Geißel des Kriegs zu bewahren“. Während Kants Vorstellung des Naturzustands von kolonialen Klischees durchsetzt ist, wie Oliver Eberl gezeigt hat, die seinem Friedensbund einen paternalistischen Touch verleihen, dient das weite Selbstverteidigungsrecht der UN-Satzung teleologisch betrachtet der Verwirklichung zweier rechtlicher wie ethischer Prinzipien: der Selbstbestimmung der Völker und den Menschenrechten.

Aus den letztgenannten rechtlichen wie ethischen Prinzipien folgen zugleich die Grenzen des Selbstverteidigungsrechts. Es ist daher gar nicht nötig, einen Gegensatz zwischen moralischem „ius ex bello“ und dem völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrecht zu konstruieren; moralische Grenzen sind dem Selbstverteidigungsrecht inhärent. Ein Staat darf sich nicht in einer Weise verteidigen, welche die kollektive Selbstbestimmung und die Menschenrechte infrage stellt, aus denen der Staat seine Existenzberechtigung schöpft.

Das erfordert eine schwierige Abwägung im konkreten Fall. Denn die Selbstverteidigung der Ukraine schützt ja auch die kollektive Selbstbestimmung und die Menschenrechte der tatsächlich oder potentiell von der russischen Aggression Betroffenen. Somit bleibt die Frage, wer die Abwägung vornehmen soll: deutsche Gelehrte oder die demokratischen Institutionen der Ukraine? Es ist im Autonomiegedanken als dem gemeinsamen normativen Kern der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts angelegt, dass darüber die primär Betroffenen entscheiden sollen. Das wusste bereits Kant, als er in seiner Rechtslehre das staatliche Recht auf Kriegsführung „von der Pflicht des Souveräns gegen das Volk“ ableitete, wozu dieses ihm „vermittelst seiner Repräsentanten, seine freie Beistimmung geben muss“.

Matthias Goldmann lehrt Internationales Recht an der EBS Universität Wiesbaden.

| Anzeige
| Anzeige

Mehr von Frankfurter Allgemeine Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung
| Anzeige
image beaconimage beaconimage beacon